Der Name der Traurigkeit
EUROPA heißt es hier doch. Und halb acht war ausgemacht. Heißt es
EUROPA? Hinausgehen und Nachsehen? Nein, nicht. Ich war ja ganz
sicher, hier, das ist es. EUROPA, die Schrift überflogen, aber ich kann
mich nicht daran erinnern. Habe nicht richtig gelesen. Nur überflogen.
Trotzdem war ich sicher. War.
Die Unsicherheit kommt durch die Gedanken, die sich niederknien vor dem Fluß der Ereignisse.
Ich könnte anrufen, was los ist. Aber wieso sollte ich? Vielleicht hat
er nur noch nicht umgestellt auf Sommerzeit. Beim Hören der Musik kommt
Lust auf Tanzen. Noch sind die Schuhsohlen zu dick. Von oben - die
Schädeldecke ist dünner - sickert eine Traurigkeit in die Augen,
klammert sich fest am Kiefer.
Ich sitze an der Ecke. Mein Blick schweift übers halbe Lokal. Ich denke
an Heidrun. Ein Traum. Das Fest. Übermorgen. Aber wann ist das? Ich
weiß es nicht. Ich folge den allgemeinen Regeln, spreche die gleichen
Worte, aber die Tage wissen um kein Übermorgen.
Wie sich die Angst einschleicht, die alte Enttäuschung. Wie eine Klette
legt sie sich zwischen meine Gedanken ans Fest. Schön denken. Ja,
schön. Anfangen damit. Eine Fliege verirrt sich im Bierschaum. Mit der
Füllfeder gerettet dankt sie durch baldigen Abflug.
Ein Traum. Ich bin in einem Traum von mir. In einem Traum. Da ist ein
Lokal, Musik. Ich in einer Ecke, es ist kühl. Ein Mann geht an mir
vorbei zum Klo. An der Bar sitzen drei Menschen. Im anderen Eck
gegenüber und etwas erhöht, ein Paar. Der Mann schaut in den Tisch.
Warum fliege ich nicht einfach davon?
Europa war irgendeine Göttin, griechisch, glaube ich. Draußen sind Flügel. Ich könnte den Wind einschlagen wie eine Scheibe.
Vögel. Die Tür geht auf, aber jemand anderer kommt herein. Wenn die Tür
aufgeht, kommen nur andere herein. Tür um Tür nur andere. Die
Wählscheibe tackt. Die Kellnerin geht mit ihrem Hintern vorbei, ich
denke an Ruth, die in meinem Alter ist. Sonst sind alle jünger. Jünger
sind die Frauen als ich. Jetzt könnte ich über mich hinauswachsen. Der
grüne Anorak ist schön. Eine Krawattennadel, die mitgeht aufs Klo. Bin
ich im EUROPA?
Ich bin doch. Nicht grübeln anfangen, keine Fragen stellen. Einfach nur
dasitzen statt dessen. Das Lokal wird voller. Die Tür geht auf, aber er
ist es nicht. Es wäre mir mittlerweile eh noch zu früh. Die Musik ist
schön, das Saxophon wundervoll. Die Frau in der grünen Jacke geht. Die
hellgrüne, schöne Jacke ist fort. Eine Stimme singt weich in einer mir
ungeläufigen Sprache. Ich will gar nicht verstehen, mir genügt der
Klang.
Ich bin - latent. Fast alles könnte geschehen. Das Reich der
Möglichkeiten ist weit und groß geworden. Die Möglichkeiten betrachten,
nicht einmal einzeln, betrachten und genießen den Augenblick.
Stichproben. Einzelne Bahnen verfolgen. Ich will sie nicht auf die
Probe stellen, sie könnten daran zugrunde gehen.
Der Blick verirrt sich auf halbem Wege. Sehnsucht nach Herzlichkeit, einer warmen Hand auf meinem Herzen.
Die Frau an der Bar erinnert mich an Heidrun. Heidrun.
Die Tür geht und geht. Meine Flügel sind gestrichen voll. Kann das
sein? Einen Moment das Wissen aufgefangen, ich bleibe hier allein, ganz
sicher. Wie erkenne ich ein Wissen? Vielleicht an seiner Zartheit und
meinem Mißtrauen. Vielleicht.
Ich bin hier. Es ist, wie es ist. Ein Traum. Eine Wirklichkeit. Wir haben Namen für vieles. Aber kennen wir es?
Das Paar geht gemeinsam zum Klo. Im Eck am Telefon eine süße Stimme,
weich und leise. Ich will mich ganz saftig verlieben. Keine Schläge
einstecken. Die Hände nicht verbrennen und die Finger nicht brechen und
schon gar nicht das Herz. Einsamer Mann schreibt an seiner Traurigkeit
entlang. Oder war es doch das FLOO? Nein.
Die Gedanken werden dünn.
Ich muß aufs Klo. Aber ich warte noch mein Bier ab. Was sind das für
Tage. Ich werde ihr in die Augen schauen, wenn sie... kommt, sie aber
hatte nur einen kurzen Blick für mich. Immerhin habe ich jetzt ein Bier
auf dem Tisch.
Wieso klammert sich die Traurigkeit immer ans Kiefer? Langsam wäre es
an der Zeit, daß er kommt. Aber ich habe mich wohl schon fürs
Alleinsein entschieden.
Karen. Ein Gruß über ein anderes Gesicht.
Mein Traum.
Wenn der Schrei ertönt, mußt du dich aufmachen. Du darfst nicht ruhen,
über Steine hinweg sollst du dann laufen. Laß deine Füße unter dir
fallen, laufe. Rieche die Düfte. Folge den Füßen. Dein Herz wird sich
öffnen und du wirst tanzen. Tanzen.
Die Lippen sind warm und die Hände. An der Wand die Lampen wie
Sternbilder. Meine linke Hand halte ich eingeklemmt auf dem linken
Knie. Was sie wohl tun würde, ließe ich sie frei?
Sie versteckt sich schamhaft.
Was ich schreibe. Ich schreibe, was ich schreiben kann, von dem was ich sehe. So ist das.
Flügel. Flügel haben Fliegen, Vögel - und Engel, sagt man. Zahlen
wollen, aber von hinten will ich niemanden ansprechen. Ich beharre auf
dem Blick der Augen. Ich will gesehen werden. Flucht. Gehen. Zahlen.
Bier aus.
Aber das ist noch zu früh. Das weiß ich. Woran erkennt man ein Wissen?
Die Frage ist falsch. Aber sie kann nur so gestellt werden.
Musik. Rhythmus. Bier im Kopf, im Bauch. Warum kann man wissen, daß
jemand nicht kommt? Antwort: Weil man es selbst so entschieden hat. So
und nicht anders. Punkt.
Langsam naht die Zeit, die mich gehen heißt.
Verflixt, bin ich hier im richtigen Lokal? Ich bin hiergeblieben. Das
ist schon viel. Tausend Tänze im Innern. Fliegen mit Flügeln und eine,
eine kleine, im Bier.
Ich kann mich retten.
Der Druck am linken Auge wächst. Eine Traurigkeit hat sich an mein
Kiefer geklammert. Ich könnte sie fragen, wer sie ist. Wie sie heißt.
Weiter. Weiterschreiben. Es hat mich gepackt. Jede Zeile kann die
letzte sein. Und die letzte auf einer Seite ist kein Grund, aufzuhören.
Die Füße, die Fußgelenke, Knöchel, angespannt.
Das Bier läuft durch zum Klo.
Es ist genug geschrieben.
Ich heiße: DU HAST MICH NICHT GENOMMEN.